Am 25.10.1923 kommt Stanislaw Rutkowski in Mizocz (Wołyń) zur Welt. Sein Vater Jozef Rutkowski wurde am 15.2.1884 in Bobrza geboren. Bobrza ist ein Dorf im Landkreis Gmina Miedziana Góra, im Kreis Kielce, Woiwodschaft Świętokrzyskie, im südlichen Mittelpolen. Es liegt etwa 6 Kilometer nordwestlich von Miedziana Góra und 12 Kilometer nordwestlich der Landeshauptstadt Kielce. Heutzutage hat das Dorf 402 Einwohner*innen. Jozef war „rolnik“, d.h. Landarbeiter.
Von 1939 bis 1943 arbeitete Stanislaw in einer Zuckerfabrik in Mizocz als Mechaniker und verdient dort 180 Zloty pro Monat. Vor dem deutsch-sowjetischen Einmarsch in Polen 1939 befand sich die Stadt Mizocz in der Woiwodschaft Wołyń in der Zweiten Polnischen Republik. Von der UdSSR nach dem sowjetischen Einmarsch in Ostpolen 1939 annektiert, wurde Mizocz von der Wehrmacht in der Operation Barbarossa, der Invasion der Sowjetunion im Juni 1941, besetzt. Etwa 300 Juden flohen mit den zurückweichenden Sowjets. In der Nähe der Zuckerfabrik fanden im Oktober 1942 Massenerschießungen der Sicherheitspolizei und der SD statt (Einsatzgruppen, Jüdischer Wohnbezirk Mizocz, Aufstand gegen die Erschießungen), die neben weiteren Massenerschießungen in der Umgebung die jüdische Gemeinde von Mizocz auslöschten.
Von Juni 1943 bis Januar 1944 war Stanislaw arbeitslos, nachdem die Deutschen die Zuckerfabrik auflösten, und lebte bei Verwandten in Równe. Von Januar 1944 bis Mai 1944 arbeitete er dann in einer Baufirma in Brześć. Als auch dieses Ghetto aufgelöst wurde, ging er zurück nach Bobrza, um dort bei seinem Onkel auf dem Bauernhof zu arbeiten. Diese Etappe endet am 28. September 1944, als die Deutschen ihn zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportieren. Sein Transport endet im Oktober 1944 und führt ihn direkt als „Ostarbeiter“ zur „Eisenbahn“ in Neumünster, wo er als Arbeiter 120 RM verdient (1 Reichsmark 1937 = € 4,10) und bis Ende des Kriegs arbeiten muss. Nach dem Krieg arbeitet Stanislaw bis August 1946 im DP-Camp als Lagerarbeiter gegen Essen und Zigaretten. Von Oktober 1946 bis September 1947 ist er in einer Gießerei in Rendsburg tätig, wird aber entlassen und arbeitet dann dort, wo er untergebracht ist, im DP-Camp „Wrangel“ in Rendsburg als Mechaniker, wieder gegen Essen und Zigaretten. Nach Stationen in Detmold, Osnabrück, Münster, Neumünster und Hamburg für den Civil Mixed Watchman Service (CMWS) unterschreibt Stanislaw Rutkowski im September 1951 den Antrag an das IRO Resettlement Office auf Übersiedlung in die Vereinigten Staaten, ebenso seine Frau Gertrud.
In erster Ehe verheirat war Stanislaw laut Akte mit Marianna, geb. 3.10.1923, aus Czernichów und hat mit ihr das Kind Stanislaw, geb. am 1.10.1946. Die Ehe muss gescheitert sein, denn am 16.4.1948 heiratet er Gertrud Magdalena Butenschön aus Pinneberg, die 4 Jahre jünger als er ist. Sie wohnen zusammen in der Holstenstraße 2 in Neumünster. Stanislaw und Gertrud haben zwei Kinder: Maria (geb. 21.5.1947) und Kristina-Helga (geb. 26.6.1948). Am 19.3.1950 wird auch noch ihr Sohn Josef geboren.
Über die Zwangsarbeit, die Stanislaw leisten musste, kann nur spekuliert werden. Die Reichsbahn hatte mehrere Lager in Neumünster, in denen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen untergebracht wurden: das Bahnbetriebswerk, den Bahnhof Neumünster, das Baustofflager und das Reichsbahnausbesserungswerk (RAW), in dem von 1939 bis 1945 kriegsrelevante Produkte hergestellt wurden und Wagen zu Kriegszwecken umgebaut wurden. Offensichtlich sollen viele Unterlagen bei den Bombenabwürfen vom 06.11.1944, 07.04.1945 und 13.04.1945 vernichtet worden sein. Beim letzten Bombenabwurf wurde das RAW komplett vernichtet. Über die im „Ausländerlager Bahnhof Neumünster“ untergebrachten Lagerinsassen gibt jedoch eine Akte des Stadtarchivs Auskunft. So lebten dort 143 Ostarbeiterinnen und Ostarbeiter, von denen 67 Polen und Polinnen waren. Nach dem Totalschaden an den Wohnbaracken mussten die Arbeiterinnen und Arbeiter, die nach dem Bombenangriff noch lebten, in das Durchgangslager und das Lager der Norddeutschen Lederwerke umziehen.
Auf der Seite der Deutschen Bahn werden die Zwangsarbeit im Werk Neumünster und die Orte der Arbeiterlager, die sich in unmittelbarer Nähe der Bombenziele lagen, leider mit keiner Silbe erwähnt. Das RAW hatte sein Lager in der Brückenstraße, das Reichsbahn-Baustofflager im Schwarzen Weg 12, ein Ausweichlager gab es in der Friedrichstraße, Ecke Wippendorfstraße. Den Ostarbeiterinnen und Ostarbeitern waren die relativ sicheren Luftschutzbunker verwehrt. Noch am 27.2.1945 beschwert sich der Amtmann Eichhorn von der Reichsbahn über die „mangelnde Kontrolle und Überwachung der ausländischen Arbeiter, beschäftigt auf dem Bahnhof Neumünster, wohnhaft im Baustofflager, Schwarzer Weg“. Lagerführer war dort 1945 ein Herr Lembke, der offenbar an den Reichsbahn-Amtmann Jaschke berichtete.
Gertrud Rutkowski stirbt als Gertrud Magdalena Banks am 4. Mai 2014 in den USA im Alter von 86 Jahren. In einem amerikanischen Nachruf-Portal heißt es: „Gertrud war eine Tochter des verstorbenen Albert und Ena (Weber) Butenschön. Gertrud liebte die Natur und ging spazieren. Gertrud wird von den Töchtern Christina Rutkowski, Bear River; Kathy Rutkowski, Cornwallis; Maria Rutkowski, British Columbia; Sohn, Piotr Rutkowski, Digby; Schwester, Helga Krings; Enkelkinder, Adam, Jessica, Rachael, Joseph und Urenkel, Gage überlebt. Früher als Gertrud sind Stanislaw Rutkowski, der erste Ehemann, Arnold Banks, der zweite Ehemann, die Söhne Josef, Sigmund, Schwester Freda und ein Bruder verstorben. “ Was aus Stanislaw wurde, ist nicht bekannt.
Quellen:
- digitalcollections.its-arolsen.org/03020101/name/pageview/3480763/3562402; zuletzt abgerufen am 03.06.2019
- Stadtarchiv Neumünster, MA 4990, MA 4681
- Sebastian Lehmann: Anzeige wurde gefertigt. Das Protokollbuch der Schutzpolizei Neumünster, Abteilung Ausländerüberwachung
- www.dignitymemorial.com/obituaries/digby-ns/gertrud-banks-5957246; zuletzt abgerufen am 03.06.2019